2.600 Fußballfelder für den Wisent
Seit 2004 begleiten Naturschützer vor den Toren der Bundeshauptstadt das größte Projekt zum Schutz des Wisents in Deutschland. In der etwa 1.800 Hektar großen Kernzone von Sielmanns Naturlandschaft Döberitzer Heide, einem ehemaligen Truppenübungsplatz, leben heute etwa 90 Tiere. Die urigen Kolosse waren Anfang des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa in freier Wildbahn ausgestorben. Bei der Zucht der Wisente auf dieser Fläche, im dicht besiedelten Mitteleuropa, geht es vorrangig um den Arterhalt. Alle Bemühungen müssen allerdings zu der Frage führen, wie das auch außerhalb umzäunter Gebiete gelingen kann. Denn das Ziel ist, in der freien Landschaft überlebensfähige Populationen aufzubauen. Wozu, fragt sich sicher der ein oder andere? Die Antwort ist simpel: um die Artenvielfalt zu bewahren.
Bis zu 9.000 Tiere in einem Kothaufen
Ausgewachsene Wisente benötigen 30 bis 60 Kilogramm pflanzliche Nahrung am Tag. Entsprechend viel kommt hinten aus einem Wisent auch wieder raus. In Wisentkot wurden 35 verschiedene Dungkäferarten nachgewiesen. In manchem Haufen leben bis zu 9.000 Individuen. In Mitteleuropa gibt es etwa 100 Dungkäferarten. 45 % aller in Deutschland vorkommenden Arten werden als mindestens gefährdet eingestuft. Der Wiedehopf füttert seine Küken bevorzugt mit äußerst proteinreicher Nahrung. Dicke Mistkäfer und fette Käferlarven gehören dazu. Fehlen die Haufen der großen Säugetiere in der Landschaft, fehlt auch Nahrung für Vögel. Und weil der Wisent, wo er geht und steht, knabbert, zupft, knickt, scharrt und schubbert, schafft er für Kräuter und Co. gleich noch den passenden Lebensraum. Nach einem ausgiebigen Sandbad eines Wisents nutzen diverse Wildbienenarten den offenen Boden, um ihre Niströhren anzulegen. Verschreibt sich einer der Kolosse eine Schlammpackung, hält er kleine Tümpel für die Urzeitkrebse offen. Überschüssige Energie werden sie los, indem sie junge Bäume und Gebüsche „kaputt spielen“. Sie gestalten ihren Lebensraum aktiv und schaffen ein Mosaik verschiedener Biotope, in denen wiederum viele verschiedene Pflanzen und Tiere vorkommen. Große Säugetiere in der Landschaft sind neben einer nachhaltigen Landschaftsnutzung und dem Schutz von Lebensräumen ein Baustein, um den Verlust der biologischen Vielfalt aufzuhalten – denn sie erfüllen Schlüsselaufgaben in den Ökosystemen. In der freien Landschaft sind all diese Prozesse unterbrochen, denn bis auf den Rothirsch, kommen keine großen Pflanzenfresser mehr vor. Selbst dieser wird nur in sogenannten Rothirschbezirken geduldet. Außerhalb werden die Tiere aus Angst vor Schäden am Wirtschaftswald nur in geringer Anzahl geduldet und entsprechend bejagt.
Artenschutz kommt an seine Grenzen
Eine Erkenntnis aus dem Projekt in der Döberitzer Heide ist, dass die Tiere ihre ursprünglichen Verhaltensweisen wiedererlernt haben. Die ersten Tiere kamen aus Gehegen, in denen sie kaum Gelegenheit hatten, das natürliche Verhalten auszuleben. Das typische Verhalten großer Pflanzenfresser und die Auswirkungen auf ihren Lebensraum können bestmöglich auf großen Flächen beobachtet werden. Doch auch das Projekt der Heinz Sielmann Stiftung hat Grenzen. Im Norden verläuft die Bundesstraße 5, im Osten die Bundesstraße 2, im Westen die Autobahn 10, und südlich beginnt etwa mit dem Sacrow-Paretzer-Kanal die Potsdamer Stadtgrenze. Zwei Elektrozäune und ein Drahtzaun trennen die bis zu 1.000 Kilogramm schweren Tiere von Spaziergängern, LKWs und Autos.
Artenvielfalt: Das Netz des Lebens, das uns trägt
Wisente und andere große Pflanzenfresser sind Schlüsselarten und Botschafter für die biologische Vielfalt. Wir müssen Artenvielfalt als Netz verstehen, das uns und unsere Lebensweise trägt. Mit jeder Art, vom Dungkäfer bis zum Wisent, die verschwindet, wird das Netz löchriger. Ab einem gewissen Punkt trägt es uns nicht mehr. Dann können wir uns nicht mehr darauf verlassen, dass die über lange Zeiträume eingespielten Prozesse in der Natur uns auch weiterhin mit Nahrung, sauberer Luft und klarem Trinkwasser versorgen. Unsere Gesellschaft muss sich mit der Frage auseinandersetzten, ob sie sich als Teil der Natur versteht oder gegen sie arbeitet. Schon um unserer selbst Willen müssen wir Natur ihren Raum zugestehen und ein Miteinander ermöglichen. Es ist eine zutiefst ethische Frage, wie wir mit anderen Lebewesen umgehen. Mit dem internationalen Tag des Artenschutzes als Anlass sollten Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und jeder Einzelne diese Frage beantworten.
Die Wisente in Deutschland sind Stellvertreter für eine bedrohte Vielfalt, ohne die auch wir Menschen nicht überleben können.