Gemeinsam mit Heinz Sielmann hat Prof. Dr. Peter Berthold im Jahr 2004 am Bodensee den Grundstein für die bundesweite Biotopverbundarbeit der Heinz Sielmann Stiftung gelegt. Im Interview verrät der bekannte Vogelforscher, was wir jetzt tun müssen, um wieder mehr Biodiversität in unseren Landschaften zu fördern.
Artenvielfalt retten
Interview mit Prof. Dr. Peter Berthold
Wie retten wir die Artenvielfalt?
Interview mit Prof. Dr. Peter Berthold
Herr Berthold, Sie sind in Deutschland einer der ersten Wissenschaftler gewesen, die das Vogelsterben seit den 1960er Jahren erkannt und untersucht haben. Wie kam das?
Ich hatte das Glück, ab 1967 in Daueranstellung an der Vogelwarte Radolfzell zu arbeiten. Die Warte befindet sich in der Gemeinde Möggingen, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die ornithologisch am besten untersuchte Gemeinde in Deutschland ist. Ab 1972 starteten wir dort eine über zehn Jahre laufende „Volkszählung bei Vögeln“, an der sich auch die Vogelforschungsstation Reit bei Hamburg und die Biologische Station Neusiedler See in Illmitz beteiligten. Im Ergebnis stellten wir fest, dass ungefähr ein Drittel aller Vogelarten dramatisch abgenommen hatte. Auf die bundesweiten Vogelbestände gerechnet, entsprach das einem Schwund von etwa einem Prozent pro Jahr. Heute – mehr als 50 Jahre später – können wir sagen: Dieser Trend hat sich fortgesetzt. Nochmal ein paar Jahrzehnte so weiter und wir werden in vielen Gebieten nahezu keine Vögel mehr vorfinden.
Um das heute weltweit dokumentierte Vogel- und Artensterben aufzuhalten, setzen Sie sich seit den 1980er Jahren für das Einrichten von Biotopverbünden ein. Warum sind Biotopverbünde so wichtig?
Das Konzept des Biotopverbunds beschreibt erst einmal, dass Lebensräume derselben oder ähnlichen Art nicht unmittelbar physisch miteinander verbunden sein müssen. Es reicht aus, wenn sie in mehr oder minder kurzen Abständen von zehn oder 15 Kilometern zueinander liegen. So können sie von fliegenden Arten wie Insekten oder Vögeln aus Nachbargebieten relativ einfach erreicht werden. Andere Arten werden dann automatisch dorthin transportiert oder wandern ein. Ein gewisses Netzwerk an Biotopen ist aber schon notwendig, um den Fortbestand der Arten zu sichern. Die heutige Situation in unserer ausgeräumten Kulturlandschaft ist aber eine andere. Die vorhandenen Naturschutzgebiete sind in toto zu klein, liegen zu weit auseinander und verdienen häufig ihren Namen nicht. So haben wir keine Chance, die Biodiversität in Deutschland zu retten. Deswegen brauchen wir zusätzliche, von Menschenhand geschaffene Biotope und diese möglichst über das ganze Land verteilt.
Ganz besonders haben Sie immer die Bedeutung von Feuchtlebensräumen hervorgehoben. Warum sind gerade die besonders wichtig?
Aus Studien wissen wir: Auf der ganzen Welt weisen Feuchtbiotope die größte Artenvielfalt auf. Wenn Sie etwa in den Regenwald des Amazonas schauen, finden Sie auf jedem Quadratmeter hunderte bis tausende von Arten. In einem extremen Trockengebiet wie der Kalahari-Wüste finden sich dagegen auf riesigen Flächen häufig nicht mehr als zwei bis drei hochspezialisierte Tier- und Pflanzenarten. Man kann also grob sagen: Je mehr Wasser vorhanden ist, desto größer ist die Biodiversität. Deshalb haben Feuchtgebiete im Biotopverbund auch den höchsten Stellenwert. Natürlich brauchen wir genauso auch andere Biotope für Arten, die an andere Lebensraumansprüche angepasst sind. Das können zum Beispiel Streuobstwiesen, Heideflächen, Trockenhänge oder Waldschutzgebiete sein.
In Heinz Sielmann fanden Sie einen begeisterten Mitstreiter, um an der praktischen Umsetzung von Biotopverbünden zu arbeiten. Wie haben Sie sich kennengelernt?
Heinz und ich haben uns 1955 auf der Jahrestagung der Deutschen Ornithologen-Gesellschaft kennengelernt. Da war ich ein 16-jähriger Steppke und Heinz bereits ein gestandener Filmemacher. Seit dieser Zeit hatten wir immer eine gewisse Nähe und Vertrauen zueinander. Wenn er von seinen Dreharbeiten aus anderen Teilen der Welt zurückkam und eine Frage zu Piepmätzen hatte, rief er mich an. Enger wurde unser Kontakt erst nach der Wende. Als der Eiserne Vorhang fiel, konnte ich erstmals die Vogelwarte Rossitten – heute Biologische Station Rybatschi – auf der Kurischen Nehrung im heutigen Russland besuchen. Dort erfuhr ich, dass dem Institut in der postkommunistischen Zeit die Mittel stark gekürzt worden waren und eine Schließung drohte. Ich bin daraufhin zu Heinz Sielmann gefahren, weil ich wusste, dass auch er mit der Vogelwarte eng verbunden war. Er hatte dort 1938 seinen allerersten Film „Vögel über Haff und Wiesen“ gedreht. Ich bat ihn also um Unterstützung und er war sofort zur Stelle. Die Heinz Sielmann Stiftung hat die Vogelwarte seitdem über viele Jahre finanziell unterstützt.
In Ihren Büchern haben Sie Heinz Sielmann als väterlichen Freund beschrieben. Was hat ihn als Menschen ausgemacht?
Heinz war ein naturbegeisterter Mensch, wie man ihn wirklich selten findet. Er konnte sich für viele Dinge im Leben begeistern, aber für nichts hat er mehr geglüht als für die lebendige Natur – ganz besonders für die Tiere. Er konnte sich mit dem Kaiser von China unterhalten, aber in dem Moment, wo eine Amsel im Baum anfing zu singen, hätte er dem Kaiser gesagt: Hören Sie mal, das ist die Amsel und wenn die singt, bedeutet das den Beginn des Frühjahrs. Diese unbändige Liebe zur Natur steht auch bei mir über allem und hat uns immer sehr verbunden.
Sie beide haben die zunehmende Umweltzerstörung und den Verlust der Artenvielfalt hautnah miterlebt und dokumentiert – Sie als Wissenschaftler und Heinz Sielmann als Tierfilmer.
Das stimmt. Als Heinz ein junger Mann war, gab es nicht einmal im Ansatz die Idee, dass Vögel und andere Tierbestände abnehmen könnten. Erst mit dem Aufkommen der industriellen Landwirtschaft und dem Einsatz von Pestiziden stellte man plötzlich fest, dass auch Allerweltstiere wie der Feldhase oder das Rebhuhn aus der Landschaft verschwanden. Das waren für Heinz erste wichtige Aha-Erlebnisse. In seinen späteren Jahren ist er noch einmal an viele seiner früheren Drehorte gereist und konnte gar nicht glauben, wie unerträglich der Zustand der Natur mittlerweile dort war. Diese Erfahrungen haben ihn letztlich dazu bewegt, die Heinz Sielmann Stiftung zu gründen.
Gemeinsam haben Sie 2004 Sielmanns Biotopverbund Bodensee ins Leben gerufen. Welche Bilanz ziehen Sie aus der bisherigen Arbeit?
Bis heute haben wir über 130 Biotope angelegt, davon allein 30 Weiher. Das ist eine wirklich fantastische Bilanz, die sich sehen lassen kann. Besonders wenn man sieht, was sich in den einzelnen Gebieten ökologisch verbessert hat. Für die Bodenseeregion ist der Biotopverbund zu einem absoluten Aushängeschild geworden. Darüber hinaus ist er ein Musterbeispiel für die anderen Bundesländer. Die Heinz Sielmann Stiftung betreibt mittlerweile eine ganze Reihe ähnlicher Projekte – zum Beispiel in Bayern in den Landkreisen Schwandorf oder Freising oder auch in Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern.
Auf welche Projekte sind Sie besonders stolz?
Unser Highlight ist nach wie vor der Heinz-Sielmann-Weiher in Billafingen mit seinen angrenzenden Biotopen. Durch intensive wissenschaftliche Begleitarbeit wissen wir dort ganz genau, was sich seit dem Projektstart in 2004 entwickelt hat. Wenn man nur einmal die Vogelbestände betrachtet: Zwischen 1971 und 2004 sank der Bestand an Vogelarten in dem Gebiet von 115 auf 101. Dann haben wir den Weiher eingerichtet und inzwischen ist die Summe der gesichteten Vogelarten auf 184 angewachsen. Tendenz weiter steigend! Ganz besonders wichtig ist der Bestand an Brutvogelarten, die also jedes Jahr am Weiher brüten. Das waren zu Anfang des Projekts 39 und jetzt sind wir bei 72 Arten. Ähnlich sieht es bei der Zahl der Brutpaare aus. Da hat sich der Wert von 200 auf rund 350 Paare pro Jahr entwickelt. Pro Jahr nutzen mindestens 25.000 Vögel den Weiher, sei es zur Rast, Brut oder Nahrungssuche.
Wie sieht es mit anderen Tieren und Pflanzen aus?
Als wir mit dem Weiher angefangen haben, gab es in dem Gebiet praktisch keine laichenden Frösche mehr, weil es an Tümpeln und Gräben mit stehendem Wasser fehlte. Bereits wenige Jahre später mussten wir einen Krötenzaun entlang der Straße neben dem Weiher einrichten und haben in manchen Jahren bis zu fünftausend Erdkröten eingesammelt und über die Straße eskortiert. Wenn wir den Laich hochrechnen, den wir im Frühjahr in den Gräben rund um den Weiher vorfinden, kommen wir auf über zehn Zentner Froschlaich nur von Grasfröschen. Im Sommer hören Sie rund um den Weiher das Konzert hunderter Laubfrösche. Kurzum: Es hat sich in kurzer Zeit eine unfassbare Masse an Amphibien aufgebaut. Und da reden wir noch gar nicht von der Vielfalt an Insekten und Pflanzen, die sich wieder angesiedelt hat.
Die Anstrengungen und Investitionen haben sich aus Ihrer Sicht also gelohnt?
Diese Frage stellen mir Leute immer wieder: Lohnt sich die Investition von mehreren hunderttausend Euro für einen solchen Weiher? Ist das sinnvoll angewendetes Geld? Und das können wir mittlerweile absolut mit Ja beantworten. Es sind derart reichhaltige Arche Noahs, die wir da einrichten. Selbst wenn sie das fünf- oder zehnfache kosten würden, wäre das immer noch bestens angelegtes Geld für die Überlebenschancen unserer heimischen Artenvielfalt und damit auch für unser eigenes Überleben. Je früher und schneller wir jetzt handeln und Biotopverbünde einrichten, desto größer sind auch die Chancen, dass wir mit den Resten an Arten noch eine Regeneration der Biodiversität erreichen können. Das wird natürlich mit jedem Jahr weniger. Bei den Insekten haben wir schon nahezu 80 Prozent verloren, auch die Vogel- und Amphibienbestände nehmen weiter stark ab. Angesichts dieser Zahlen ist es doch erstaunlich, dass das Regenerationspotential der Natur noch so hoch ist. Es ist also trotz allem noch immer genug „Restmaterial“ da, mit dem wir in der Lage sind, derart positive Entwicklungen hervorzurufen.
Das im Bundesnaturschutzgesetz verankerte Ziel ist ein bundesweites Netz aus bestehenden, zusätzlich geschaffenen oder aufgewerteten Biotopen auf mind. zehn Prozent der deutschen Landesfläche. Glauben Sie, dass ein solches Mammutprojekt gelingen kann?
Ich werde es wohl selbst nicht mehr erleben, aber ich glaube schon, dass sich das über die nächsten Jahrzehnte entwickeln wird. Die Heinz Sielmann Stiftung ist zur Einrichtung solcher Biotopverbünde geradezu die ideale Institution. Sie ist eine Stiftung mittlerer Größe mit einer engagierten Spendergemeinde, die voll und ganz hinter den Projekten steht und die notwendigen Mittel dafür bereitstellt. Außerdem konzentriert sich die Arbeit der Stiftung zu fast einhundert Prozent auf Deutschland. Klar ist aber auch: Es wird nicht möglich sein, ein derart komplexes Projekt zentral umzusetzen. Umso wichtiger ist es, dass sich in den Gemeinden kleinere Gruppen von Menschen bilden, die Biotop-Projekte auch selbst in die Hand nehmen. Da muss eine deutschlandweite Bewegung in Gang kommen. Den Grundstein dafür haben wir bereits gelegt.
Zur Person
Prof. Dr. Peter Berthold, geboren 1939, ist ein international renommierter Ornithologe. Seit 1955 ist er an der Vogelwarte Radolfzell tätig, die er von 1991 bis 2005 leitete. Von 1981 bis 2005 lehrte er als Professor für Biologie an der Universität Konstanz. Daneben war er langjähriger Direktor des Max-Planck-Instituts für Ornithologie und Mitglied im Stiftungsrat der Heinz Sielmann Stiftung. Für seine Forschungsarbeit wurde er vielfach ausgezeichnet.